Standards für die Identifikation
lebender Personen nach Bildern.
Grundlagen, Kriterien und Verfahrensregeln für Gutachten.
Fassung vom 16. Dezember 2011, veröffentlicht in http://Bildidentifikation.de.
Erste Fassung 1999 veröffentlicht in: Anthropologischer Anzeiger 57/2: 185-191, Deutsches Autorecht 4/99: 188-189, Kriminalistik 4/99: 246-248, Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ 1999/5: 230-232, Rechtsmedizin 9: 152-154.
§1. Arbeitsgruppe
(1) Die Standards wurden ursprünglich von folgenden Mitgliedern der Agib „Arbeitsgruppe Identifikation nach Bildern“ erstellt: Dr Dieter Buhmann, Homburg; Prof Dr Richard P Helmer, Bonn und Remagen; Prof Dr Uwe Jaeger, Jena; Prof Dr Dr Hans W Jürgens, Kiel; Prof Dr Rainer Knussmann, Hamburg; Prof Dr Friedrich W Rösing, Ulm (Vorsitzender); PD Dr Horst D Schmidt, Ulm; Prof Dr Johann Szilvassy, Wien; Prof Dr Dr Gerfried Ziegelmayer, München. (2) Die jetzige 4. Fassung wurde am 16. Dezember 2011 von den 20 Mitgliedern der Agib beschlossen.
§2. Ziel
(1) Das Ziel dieses Textes ist es, Auftraggebern, Beteiligten und Betroffenen eines Identitätsgutachtens ein Grundverständnis der wissenschaftlichen Prinzipien, Kriterien und Arbeitsregeln zu vermitteln, auch um die Qualität eines Gutachtens beurteilen zu können. (2) Es ist hingegen nicht Ziel, hier eine Zusammenfassung der zugrundeliegenden wissenschaftlichen Methodik der morphologischen Anthropologie (ein Teil der größeren Humanbiologie) oder der entsprechenden Methodik der Kriminalistik zu geben, dafür sei auf die unten zitierte Literatur verwiesen, die Zugang zu weiteren Quellen gibt.
(3) Inhaltlich geht es hier um die Identifikation Lebender, also um sogenannte Bild-, Foto- oder Vergleichsgutachten, auf der Grundlage verschiedener Bildträger (digitale Aufnahmen, Fotos vom Negativfilm, Videos und Videostandbilder, Gemälde und Zeichnungen): (4) Die Bilder stammen meist von der Überwachungskamera einer Bank oder von einer Dokumentationskamera im Straßenverkehr, und die darauf abgebildete(n) Person(en) wird (werden) mit Benannten verglichen. (6) Andere anthropologische oder kriminalistische Identifikationsverfahren sind nicht gemeint, also nicht die Skelettidentifikation oder der Vergleich von Fingerabdrücken.
§3. Prinzip
(1) Die Identifikation gründet auf dem Prinzip der Ähnlichkeit. (2) Sie wird im allgemeinen ganzheitlich und rasch eingeschätzt und beurteilt, wobei es bei der Entscheidung zwischen identisch und nichtidentisch eine Tendenz zur Prägnanz gibt, d.h. zu einer Polarisierung zwischen den beiden Möglichkeiten. (3) Beim wissenschaftlichen Identitätsgutachten hingegen werden diese drei Kriterien Ganzheitlichkeit, Geschwindigkeit und Prägnanztendenz vermieden. (4) Es werden vielmehr möglichst detaillierte Einzelstrukturen benannt, die Analyse wird vor allem sorgfältig und nicht unbedingt schnell durchgeführt, und es sind Zwischenstufen der Ähnlichkeitseinschätzung möglich.
§4. Rechtsgrundlagen
(1) Das Erkennen von Gesichtern ist eine hoch entwickelte menschliche Grundfähigkeit. (2) Insofern ist die Identifikation von Personen normaler Bestandteil polizeilicher wie staatsanwaltlicher Ermittlungsarbeit und prozessualer Beweisaufnahme. (3) Wenn allerdings Identitätsaussagen strittig oder nicht eindeutig sind, ist ein wissenschaftliches Identitätsgutachten geboten. (4) Dies gilt insbesondere im Strafprozess, da in diesem der Ermittlungsgrundsatz gilt. (5) Er bedeutet, dass das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist. (6) Somit sind besonders hohe Anforderungen an die Beweisaufnahme zu stellen, da die unkritische Übernahme eines vermeintlich sicheren Wiedererkennens durch einen Zeugen oder einer vermeintlich sicheren wissenschaftlichen Identifikation eine Hauptursache von Fehlurteilen ist. (7) Dies ist schon 1984 vom Bundesgerichtshof in einer Revisionsentscheidung mit Grundsatzcharakter bekräftigt worden; in einem Beschluss wurde eine Strafsache an das zuständige Landgericht zurück verwiesen, weil ein beantragtes Identitätsgutachten nicht eingeholt worden war (BGH 1 StR 411/84) (8) Heute gibt es eine Fülle von weiteren Entscheidungen, die Methodenelemente wie Abläufe festlegen (zB in Buck & Krumbholz 2008, 2. Auflage voraussichtlich 2012).
(9) Des Weiteren gilt der Grundsatz in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten), d.h. das Gericht darf keine Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten haben. (10) Diese Zweifel entfallen, sobald das Gericht die Täterschaft aufgrund des wissenschaftlichen Identitätsgutachtens als erwiesen ansieht.
§5. Geräte
(1) Bei Tatbildern (Bezugsbildern) sollte auf das Original zurück gegriffen werden, also den Videofilm, den Negativfilm oder die elektronische Bilddatei. (2) Die Vergleichsbilder sollten dem Tatbild in allen technischen Größen entsprechen. (3) Besonders wichtig ist die Übereinstimmung in der Blickrichtung auf den Kopf; ist das bei vorhandenen Bildern nicht der Fall und behindert dies die Analyse, so sollten neue gefertigt werden. (4) Auch bei Tatbildern, die mit starker Kameraüberhöhung gewonnen wurden, sind die Vergleichsbilder so aufzunehmen. (5) Die Erkennbarkeit von Merkmalen kann durch schlechte Aufnahmen beeinträchtigt sein; das wird bei jedem Merkmal oder Merkmalskomplex zusätzlich zur eigentlichen Ähnlichkeit der Form eingeschätzt. (6) Ein Vergleich sollte möglichst mit gleichen Medien vorgenommen werden, also Bild mit Bild und nicht Bild mit realer Person. (7) Beim Geräteeinsatz sollte die Verhältnismäßigkeit beachtet werden: so sollten bei Strafverfahren alle sinnvollen Möglichkeiten genutzt werden, auch das Nachstellen von Bildern des Benannten mit der ursprünglichen Überwachungskamera. (8) Beim Einsatz technischer Mittel sind in einzelnen Fällen alternative Vorgehensweisen möglich, insbesondere, wenn es durch das Verfahren erforderlich ist.
§6. Merkmale
(1) Grundsätzlich werden alle Merkmale der menschlichen Gestalt verwendet, die auf den verglichenen Bildern erkennbar sind. (2) Unter Merkmal werden dabei feine zwei- bzw dreidimensionale Oberflächenformen verstanden; in der Regel sind solche Strukturen nicht mehr in nochmals feinere Einzelteile aufzulösen. (3) Besondere Aufmerksamkeit ist neben dem Gesicht als Ganzes auch den einzelnen Merkmalskomplexen von Haaren, Stirn, Brauen, Augen, Wangen, Nase, Mund und Kinn zu widmen, außerdem dem Ohr und dem Hals. (4) Neben solchen morphologischen Merkmalen lassen sich oft auch persönlichkeitstypische Haltungen bzw. Bewegungen erkennen. (5) Eine a-priori bzw. allgemeine Wahrscheinlichkeit von Merkmalen wie bei der genetischen Identifikation ist wegen der meist schlechten Quantifizierbarkeit und der oft unbekannten Bevölkerungshäufigkeit der morphologischen Merkmale nicht durchgehend fassbar. (6) Als Merkmal gilt nicht zB Nasenform (das ist eher ein übergeordneter Merkmals-komplex), sondern detaillierter zB die Form des Nasenrückens, dann weiter dessen Absetzung gegen Nasenspitze, Nasenwurzel und Nasenseitenwand etc. (7) Nützlich ist die konzeptionelle Unterscheidung zwischen großräumigen (groben, allgemeinen) und kleinräumigen (feinen, spezifischen) Merkmalen. (8) Eine Vielzahl von Feinmerkmalen ist für die anthropologisch-erbbiologische Vaterschaftsprüfung beschrieben, erforscht und praktisch benutzt worden. Dies ist eine der Grundlagen der wissenschaftlichen Identifikation nach Bildern.
§7. Merkmalsausprägungen
(1) Ein Merkmal wie z.B. Nasenrückenform kann Ausprägungen (Prägungen) wie konvex, konkav, wellig oder gerade haben. (2) Die Verteilung in der Bevölkerung ist vor allem dann wichtig, wenn die Zahl der erkennbaren Merkmale gering ist. (3) Bei einer hohen Zahl gut erkennbarer Merkmale spielt die Häufigkeit kaum eine Rolle. (4) Die meisten Merkmalsausprägungen verändern sich mit Reifung und Altern; daher sollte auf Zeitunterschiede zwischen Bildern geachtet werden. (5) Außerdem können Merkmale durch Mimik oder Kosmetik verändert, in Folge von Vermummung oder Maskierung unkenntlich oder auch durch technische Einschränkungen (Artefakte) schwer erkennbar sein.
§8. Begutachtung
(1) Ein schriftliches Gutachten ist gegenüber einem rein mündlichen vorzuziehen. (2) Ist eine mündliche Identifikation doch notwendig, weil zB keine geeigneten Vergleichsbilder zu beschaffen sind, so bedarf es einer vorausgehenden, sorgfältigen Analyse des Tatbildes, zB in Form einer Liste der erkennbaren Merkmale. (3) Es ist nützlich, jedoch nicht unerlässlich, im Gutachten die Grundlagen der wissenschaftlichen Identifikation darzulegen. (4) Unerlässlich ist dagegen die vollständige Behandlung aller Merkmale, die im begutachteten Fall beurteilbar sind. (5) Die einzelnen Merkmalsausprägungen sind detailliert zu beschreiben; dies dient der Nachvollziehbarkeit zur Beweisführung für oder gegen eine Identität und der juristischen wie sachlichen Überprüfbarkeit. (6) Dabei wird die übliche und veröffentlichte morphologische Nomenklatur verwendet, mit Bevorzugung der deutschen statt der lateinischen Begriffe. (7) Teilaufträge, zB nur über die Körperhöhe oder ein Ohr, sollten nicht erteilt bzw angenommen werden; ist dies doch unausweichlich, so sind Vorbehalte der eingeschränkten Verwertbarkeit anzuführen. (8) Einseitige Fragestellungen, zB lediglich nach Ausschlussmerkmalen, sind nicht zu empfehlen. (9) Auch Kurzgutachten sind nicht zu empfehlen. (10) Die Einzelschritte der Identifikationsarbeit, die angewandten Prinzipien und die Annahmen zB zur Bildinterpretation, Merkmalsausprägung oder Merkmalshäufigkeit, sind ins Gutachten aufzunehmen. (11) Auch beim Aufbau des Gutachtens und bei den Formulierungen sollte berücksichtigt werden, dass das Gutachten auch von morphologischen Laien verstanden werden muss.
§9. Vorauswahl
(1) Für den Fall, dass Verdächtige wegen ihrer Ähnlichkeit zum abgelichteten Täter gefunden bzw benannt wurden, wird eine Vorauswahl (Vorselektion) aus der Bevölkerung vorgenommen. (2) Folglich ist jeder der Benannten dem Täter ähnlich, und die Beurteilung der Ähnlichkeit mit Hilfe der Häufigkeit von Merkmalen in der Bevölkerung muss verändert werden: unähnlichen Merkmalen wird ein stärkeres Gewicht gegeben und der Grad der Übereinstimmung sowie die Seltenheit der betreffenden Merkmalsausprägung muss höher sein als ohne Vorauswahl. (3) Wichtig ist auch die Ähnlichkeit in unauffälligen Einzelheiten, insbesondere, wenn sie bei der Benennung durch Zeugen keine Rolle gespielt haben dürften.
(4) Für das Prinzip der Vorauswahl gilt die Einschränkung, dass Gesichter oft nur an Hand weniger Merkmale wieder erkannt werden. (5) Nur für diese Merkmale gilt dann die Vorauswahl. (6) Auch liegt eine nur eingeschränkte Vorauswahl vor, wenn innerhalb einer Familie gesucht worden ist.
§10. Vorbehalte
(1) Jede Identifikation steht unter dem Vorbehalt, dass keine engen Blutsverwandten des Verdächtigen bzw. Beschuldigten in Frage kommen. (2) Der Vorbehalt ist im Gutachten zu nennen. (3) Sollte doch ein Verwandter in Frage kommen, ist er am besten in die Beurteilung durch den Sachverständigen aufzunehmen.
(4) Eine Identitätsprüfung steht auch unter dem Vorbehalt, dass keine Veränderung des Aussehens stattgefunden hat, die auf dem Bilddokument nicht erkennbar ist. (5) Wenn dem Gutachter Vergleichsbilder zugeschickt wurden, ist der Vorbehalt zu erheben, dass das Bild tatsächlich die beanspruchte Person abbildet.
§11. Wahrscheinlichkeit
(1) Stets wird die Identitätswahrscheinlichkeit eingeschätzt. (2) Sie ist abhängig von der Zahl der einbeziehbaren Merkmale, deren Erkennbarkeit und deren Häufigkeit in der Bevölkerung. (3) Regeln der Mindestzahl von notwendigen Merkmalen gibt es bei der Identifikation nicht, denn die Zahl der notwendigen Merkmale hängt untrennbar mit deren Häufigkeit zusammen: Übereinstimmung in wenigen seltenen Merkmalen kann aussagekräftiger sein als Übereinstimmung in vielen häufigen Merkmalen. (4) Bei der Kombination von einzelnen Wahrscheinlichkeiten, ist zu berücksichtigen, dass einige Merkmale der Gestalt des Menschen miteinander korreliert sind. (5) Viele morphologische Merkmale lassen sich nur schwer quantifizieren, dann schätzt sie der Gutachter ein. (6) Für das Endergebnis eines Gutachtens lassen sich nach Schwarzfischer Prädikatsklassen verwenden:
Identität praktisch erwiesen
Identität höchst wahrscheinlich
Identität sehr wahrscheinlich
Identität wahrscheinlich
Identität nicht entscheidbar
Nichtidentität wahrscheinlich
Nichtidentität sehr wahrscheinlich
Nichtidentität höchst wahrscheinlich
Nichtidentität praktisch erwiesen
(7) Auch andere Bezeichnungen werden verwendet, bei gleicher Grundlage nach Schwarzfischer bzw Hummel. (8) Eine kürzere Skala ist denkbar, bei der etwa die fünf mittleren Klassen zu einer zusammen gezogen sind.
(9) Vom Prinzip her ist der Identitätsausschluss einfacher als die Identitätsfeststellung: bereits ein klarer Unterschied ist als Ausschluss zu werten. (10) Aber auch dort ist eine Wahrscheinlichkeit bzw. Beweisgültigkeit einzuschätzen, weil die Sicherheit der Erkennung von Merkmalen unterschiedlich ist, weil Merkmale sich verändern können und weil sie verändert werden können.
§12. Gutachter
(1) Die Ausbildungsgrundlage für einen sachverständigen Identitätsgutachter ist die profunde Kenntnis der allgemeinen menschlichen Morphologie einschließlich ihrer Differenziale nach Geschlecht, Alter, Krankheit, Konstitution, sozialer Stellung und geografischer Herkunft, des weiteren eine detaillierte Kenntnis der speziellen Grundlagen der Identifikation und schließlich der Erwerb breiter Erfahrung unter Mithilfe eines Erfahrenen.
(2) Stets muss sich der Gutachter der Grenzen der Identifikationsmethodik bewusst sein; es wird empfohlen, dies an geeigneten Stellen auch ausdrücklich zu formulieren. (3) Die allgemeinen Anforderungen an einen Gutachter gelten auch für das Gebiet der Identifikation: er muss sich stets seiner Kompetenz und seiner Kompetenzgrenzen bewusst sein, muss mit höchster Sorgfalt arbeiten, vorsichtig schließen und vollkommen unabhängig bleiben (Bayerlein 2002).
(4) Die Mitglieder der Agib, die Gutachten erstatten, werden in der Netzseite aufgeführt. (5) Neue Mitglieder werden nach Prüfung aufgenommen. Das Verfahren für die Neuaufnahme wie auch die Entscheidung der Neuaufnahme selbst geschieht im Konsens der zugelassenen Gutachter. (6) Für die laufende Qualitätssicherung wird ein Ringtausch von Gutachten (Audit) veranstaltet.
Literatur
Knußmann R (1983) Die vergleichende morphologische Analyse als Identitätsnachweis. Strafverteidiger 3, 127-129.
Knußmann R (1988) Die morphologische Identitätsprüfung. In: Knußmann R (Hrg) Anthropologie. Band I/1. Gustav Fischer, Stuttgart, 389-407.
Knußmann R (1991) Zur Wahrscheinlichkeitsaussage im morphologischen Identitätssgutachten. NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht 11, 175-177.
Schwarzfischer F (1992) Identifizierung durch Vergleich von Körpermerkmalen, insbesondere anhand von Lichtbildern. In: Kube E, Störtzer O, Timm J (Hrg) Kriminalistik. Handbuch für Praxis und Wissenschaft. Bd l, 735-761.
Bayerlein W (2003) Praxishandbuch Sachverständigenrecht. CH Beck, München, 3. Aufl.
Rösing Fw (2006) Identifikation von Personen auf Bildern. §77 in G Widmaier Ed: Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung. CH Beck-Verlag, München, 2534-2548.
Buck, J, Diekmann A, Rösing Fw (2006) Identifikationsgutachten. §67 in W Ferner Hrg: Straßenverkehrsrecht. 2. Aufl. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 1069-1079.
Buck J, Krumbholz H, Hrg (2008) Sachverständigenbeweis im Verkehrsrecht. Nomos-Verlag, Baden-Baden.